Samstag, 14. Juni 2008

Today's Pearl of Wisdom: "Der springende Punkt"

Das Schöne am Übersetzen ist, das man seinen ohnehin schon unnützen Sprachschatz um Begriffe bereichern kann, die man nie wieder brauchen wird – Entropie! Disjunktion! Serendipidität! –, so dass ein unendlicher Fundus an unnützen Begriffen entsteht, der das Auffinden des ja beständig neuen zu suchenden treffenden Wortes mit der Zeit nahezu unmöglich macht. Noch viel schlimmer ist allerdings die plötzliche Tiefenforschung in Begriffe, die man kennt und findet und die (trotzdem?) treffend sind.


Hätten Sie's gewusst?

Der Ausdruck springender Punkt wurde ursprünglich zur Bezeichnung eines in der Physiologie beobachtbaren Phänomens geprägt. Das punctum saliens oder der springende Punkt bezeichnet in der Wissenschaft der Physiologie den pulsierenden Blutpunkt, der sich im Experiment – z. B. am bebrüteten Hühnerei – etwa am vierten Tage nach der begonnenen Bebrütung bemerkbar macht.

Aristoteles hat in seiner Tierkunde (Hist. An. VI 3, 561a12f.) zum ersten Mal vom Springen (A. gebraucht das Verb πηδαω, ich hüpfe, springe) eines Blutpunkts (σθιγμη αιματινη) gesprochen.

Davon abgeleitet hat sich die Redewendung, wonach es sich beim springenden Punkt um das Herz bzw. den Kern eines Objektes oder einer Fragestellung handelt.

William Harvey, der Entdecker des Blutkreislaufs, beschreibt das Phänomen so:

»Wenn am vierten Tage eine Untersuchung am Ei vorgenommen wird, ist die Metamorphose schon größer und die Verwandlung schon bewundernswürdiger –, und mit jeder Stunde im Verlaufe des Tages augenscheinlicher. In diesem Zeitraum findet der Übergang vom pflanzlichen Leben zum tierischen Leben im Ei statt. Jetzt nämlich zeigt sich ein dünner, rötlicher Rand in der Eiflüssigkeit und, beinahe in seinem Zentrum, zuckt ein springender, blutfarbener Punkt, so klein, dass er im Moment seiner Diastole wie ein kleiner Feuerfunken hervorleuchtet, und er dann, in seiner Systole, dem Blick wieder ganz entschwindet. Als eine solches kaum sichtbares (Kommen und Verschwinden) zeigt sich der Anfang des tierischen Lebens, der von der plastischen Kraft der Natur initiiert wird!«
(»Quarto itaque die si inspexeris, occurret jam major metamorphosis, & permutatio admirabilor; quae singulis fere illius diei horis manifestior fit; quo tempore in ovo, de vita plantae, ad animalis vitam fit transitus. Jam enim colliquamenti limbus linea exili sanguinea purpurascens rutilat: ejusque in centro fere, punctum sanguineum saliens emicat: exiguum adeo, ut in sua diastole, ceu minima ignis scintillula, effulgeat; & mox, in systole, visum prorsus effugiat, & disparear. Tantillum nempe est vitae animalis exordium, quod tam inconspicuis initiis molitur plastica vis Naturae!«) In: Gulielmi Harvei,Opera II, Exercitationes de Generatione Animalium, Leyden 1737, S. 66.
Eigentlich forschte ich ja nach dem "horizontalen punctum" (dem recht toten Schlusspunkt in Frauengestalt in der Fotografie von Izima Kaoru):

Dass ich dabei die oben verewigte Weisheit fand, schulde ich also der Serendipity! Wie kann ich nur von Unnutz reden! Es benötigt halt noch ein wenig temporaler Disjunktion zu meinem aktuellen Translationserlebnis, damit ich die Gnade meines Berufes mit Demut würdigen kann.